Unregelmäßige Bund-Abstände. Warum?

Begonnen von Tuke, 29. Mär 2013, 16:12:34

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wwelti

#15
Es gibt da nur ein Problem: Das Hamburger Cithrinchen hat offenbar 12 Bünde bis zur Oktave. D.h. wir haben eine vollständig chromatische Bundierung. Der 12. Bund ist scheinbar ziemlich genau in der Mitte. Es fehlen also keine Bünde (wie dies bei diatonischer oder teildiatonischer Bundierung der Fall wäre), sondern die Abstände zwischen den Bünden sind etwas anders als gewohnt.

wwelti

#16
Die Erzählung mit dem Bauern und seiner Frau gefällt mir irgendwie :mrgreen:

Ich möchte aber auch nochmals auf die mitteltönigen Stimmungen hinweisen. In der Wikipedia wird eine 1/4-Komma - mitteltönige Stimmung demonstriert. Dort sind die Intervalle doch erstaunlich ungleichmäßig:

c - cis: 76 Cent
cis - d: 117 Cent
d - es: 117 Cent
es - e: 76 Cent
e - f: 117 Cent
f - fis: 76 Cent
fis - g: 117 Cent
g - gis: 76 Cent
gis - a: 117 Cent
a - b: 117 Cent
b - h: 76 Cent
h - c: 117 Cent

(siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Mittelt%C3%B6nige_Stimmung )

Das ist schon mal eine deutliche Abweichung von der Regelmäßigkeit einer gleichstufigen Stimmung, in der all diese Intervalle genau 100 Cent betragen. Wenn man dann noch berücksichtigt, daß es noch zahlreiche weitere Parameter gibt, die bei \"Platzierung der Bünde nach Gehör\" zu weiteren Abweichungen führen können, kann diese etwas \"wilde\" chromatische Bundierung vielleicht doch nachvollziehbar werden.

hinnerk

Hallo, wir brauchen das Rad nicht neu zu erfinden, viele haben sich vor uns schon diesem \"Problem\" gewidmet. Ich habe versucht in Kürze den derzeitigen Stand der Forschung darzustellen. Das war und ist nicht so einfach. Ich habe hier mehrere Monographien zur Zister zur Hand und kann zeitnah nachlesen.
Die mitteltönige Chromatik wie wir sie heute \"haben\" war damals noch kein Thema, Wilfried hats grade erwähnt. Nicht erwähnt habe ich, daß nicht alle Saiten auf allen Bünden gespielt wurden.
Weiters hab ich hier mal eine Tabelle mit Bundabständen/Frequenzmessung dazu. Jeder kanns auf Millimeterpapier aufmalen und mit der Abb. Cithrinchen oben vergleichen:

B1 33,1mm/109,0Hz; B2 58,6/202,5; B3 87,0/303,5Hz; B4 113,4/--; B5 136,0/500,0; B6 161,0/602,5; B7 179,8/690,5; B8 202,0/--; B9 219,0/885,0; B10 238,6/989,0; B11 257,5/1100,0;
B12 271,1/1200; Mensur 545mm; -- bedeutet Messung nicht möglich weil die Saite auf demnächsten Bund aufliegt (zitiert aus dem Katalog ZISTERN, Leipzig 1999).
Kopp Hinrich war renommierter Instrumentenbauer. Ich glaube nicht daß er geschlampt hat. Bis sich die chromatische Bundierung bei neueren Modellen durchsetzte wurden viele Zistern mit dieser Bundierung hergestellt, ich hab hier mehrere in Katalogen zum Vergleich. Vielleicht ein Nebensatz: Mit der Einführung fester Bünde kam natürlich das Problem mit der Stimmreinheit. Vorher konnte man die Bünde fürs Feintuning leicht verschieben (Wie es die Lautenisten heute noch machen).
Alles in allem kann ich nur wiederholen, warum die \"Aufgabenstellung\" so gelöst wurde, ist auch bei denen noch nicht geklärt, die sich berufsmäßig schon lange mit Zistern beschäftigen.
@Peter: Ich habe viel Instrumente selbst gebaut, chromatisch wie diatonisch bundiert; daher sind mir die Grundprinzipien vertraut. Ich besitze auch eine ungarische Zither, die genau wie in Deiner Anekdote in Süd-Ungarn (Komitat Bacs-Kiskun) hergestellt wurde.
OT: mein Hintergrund: seit Mitte der 70er forsche ich zum Thema Musikinstrumente, war viele Jahre im Nebenberuf Lehrer für \"Musikinstrumentenbau in therapeutischen und pädagogischen Arbeitsfeldern\"; Ich kann auf eine umfangreiche Bibliothek (über 1000 Bücher zu Musikinstrumenten) im Haus zurückgreifen und tue es auch. LG Axel

hinnerk

Jetzt sehe ich was ich vergessen habe: Die Frequenzwerte betreffen die Unterscheidung zum Ton bei der nicht gegriffenen Saite

wwelti

#19
Hallo Axel,

Aber wir haben heute doch gar keine mitteltönige Chromatik, sondern gleichstufige. Mitteltönige Stimmungen waren (bis) zu Bachs Zeiten üblich. Dann folgte allmählich der Übergang zu den (wohl)temperierten Stimmungen (z.B. Werckmeister). Als das Cithrinchen gebaut wurde, waren mitteltönige Stimmungen sicher noch weit verbreitet.

Die Frequenzwerte die Du angegeben hast sehen aus wie Abweichungen in Cent. Was für eine Tabelle ist denn das? Mit dem Cithrinchen stimmt sie ganz gewiß nicht überein. Auch die Abstände nicht.

hinnerk

Hallo Wilfried, Du hast natürlich recht. Vor lauter immer wieder verbessern, verkürzen, ergänzen schleichen sich Flüchtigkeitsfehler ein, und so zuhause bin ich nicht in den altenStimmungen, muß immer wieder nachlesen, weils nicht mein Thema ist. Die Frequenzwerte sind in Cent. Die untersuchte Zister ist aus Brescia, um 1590, unsigniert, Inv. Nr 613 im Grassi-Museum Leipzig.
Das Hamburger Cithrinchen aus der Sammlung ist als Kriegsverlust gekennzeichnet. Man müßte ein vorhandenes vermessen oder entsprechende Vermessungsprotokolle abfragen soweit vorhanden. Könnte dann aber auch was kosten, denn solche Untersuchungen/Vermessungen sind aufwendig. Ich hatte erst vor kurzem für ein Museum ein \"Machete\" von Octavianno Nunes vermessen (in etwa baugleich mit dem von John King). Er hatte es damals in Wien gekauft und von David Mean nachbauen lassen, Du weißt Bescheid.
LG Axel

wwelti

#21
Danke, Axel. Wir betreiben hier ja keine präzise Wissenschaft, sondern versuchen nur ein grundsätzliches Verständnis zu erlangen. Eine zertifizierte(?) Vermessung von einem teuren Spezialisten brauchen dafür bestimmt nicht.

Präzise zu vermessen, wie die Intonation des Cithrinchens damals war, halte ich sowieso für unmöglich, da die Intonation immer auch stark von den Saiten abhängig ist -- und die Saiten von damals sind wohl bestimmt nicht mehr vorhanden (bzw. wenn doch, dann unbrauchbar).

Die Abstände der Bundstäbchen zu vermessen halte ich für kein Hexenwerk, genau gesagt finde ich schon das Foto das wir hier haben, aussagekräftig genug für eine ganz grobe Einschätzung. Soviel wird klar: Eine gleichstufige Stimmung wurde hier gewiss nicht erzielt. Das halte ich bei dieser Bundierung für ausgeschlossen.

Die Machete von Nunes hatte wohl eine deutlich gleichmäßigere Bundierung. Dave Means hat ganze Arbeit geleistet bei seinem Nachbau, finde ich -- sie klingt fantastisch! :)

Viele Grüße
  Wilfried

hinnerk

Hallo Wilfried, wenn wir exakte Wissenschaften betreiben wollten, befürchtet grade meine Frau, würde hier der Esszimmertisch voller Bücher sein, ich habe wirklich einiges zum Thema (Stimmung, Saiten, Instrumente), nur scannen kann ich leider nichts. Aber mit jeder weiteren Illustration wird mir klar, daß diese Art der Bundierung ganz normal war, neben einer chromatischen, die mir auch immer wieder mal begegnet. Peter Forrester hat mal einen Bericht für die Lute society geschrieben, im Buch \"Die Laute in Europa Teil 2\" ist er eingearbeitet mit einer Graphik über die Bundierung bei Zistern (Cittern), die ist auch im Netz zu finden unter: http://www.cittern.theaterofmusic.com/articles/fretting.html  Anhand dieser Graphik werden die Unterschiede zur vertrauten Bundierung deutlich. Peter Forrester hat noch mehr zur Zister publiziert.
Der (die) machete von Nunes war eine wahre Freude trotz des schlechten Zustandes. Inzwischen habe ich die Daten auch an Claus weitergeben dürfen, vielleicht hat er in absehbarer Zeit mal die Zeit, sich an einen Nachbau zu machen.
LG Axel

wwelti

Hallo Axel!

Ich denke wir sollten nicht die chromatische Bundierung, die jedoch nach heute unüblichen Stimmungen ausgerichtet ist und deshalb ungewöhnliche Bundabstände aufweist, mit den diatonischen Bundierungen durcheinanderbringen. Zwar zeigen sich in beiden Fällen \"merkwürdige Muster\" in der Bundierung, aber es handelt sich dennoch um zwei unterschiedliche Phänomene.

Das 3. Fretting Pattern ist offenbar so eine chromatische Bundierung. Interessant finde ich die Doppel-Linien. Alternative Bundpositionen je nach Enharmonik?

Ein Nachbau einer Nunes-Machete, das fände ich verlockend, muß ich zugeben.

Viele Grüße
  Wilfried

hinnerk

Hallo Wilfried, ich wollte die beiden Bundierungen nicht durcheinander bringen. Ich kenne die Unterschiede. Der Begriff \"teildiatonische Bundierung\" stammt aus der Fachliteratur, den hab ich nicht erfunden. Inzwischen habe ich im Katalog \"Tage Alter Musik Herne, 1997, Gestrichen und Gezupft\" im Aufsatz von MICHEL zur Zister den Ausdruck \"teilchromatische Bundierung\" gefunden. Der stellt das Phänomen sozusagen von der anderen Richtung aus dar. Paßt also zu Deiner Anregung hier nichts durcheinander zu bringen. Sicher findet sich irgendwann ein dritter Begriff.
Das mit dem Nunes Nachbau fänd ich auch ganz toll, deshalb hab ich mich in dieser Sache ja mit Claus in Verbindung gesetzt. Nur ist im Moment wenig Zeit für solche Feinen Sachen. Die DetailFotos zeigen übrigens auch trotz aller Schäden, was Nunes da für ein tolles Instrument gebaut hat, auch vom Entwurf, den Proportionen und vielen Kleinigkeiten her. Vielleicht ergibt sich mal ein Treffen wo ich Dir die Fotos zeigen kann.
LG Axel

Tuke

#25
Mir ist die Sache jetzt zu hoch, ich komme nicht mehr mit, auch nicht mit
Einzelunterricht... :mrgreen:

Prof. Hellweg hat mich eben angerufen und mit großer Freundlichkeit & Geduld
die Sache erklärt.
Den professoralen Vortrag zusammenzufassen fällt mir schwer, zumal
die Einleitung lautete: \"Die Frage ist kaum zu beantworten...\"

Er hat es dann trotzdem versucht und mir auch den entscheidenden Hinweis
gegeben: Es hat mit MITTELTÖNIGKEIT zu tun! (Er empfahl mir, das mal bei Wikipedia nachzulesen...)

Eine Seite habe ich gefunden, auf der das Thema einigermaßen nachvollziehbar
abgehandelt wird und auch ein Instrument mit so eigenartiger (eigentlich noch
schlimmerer) Bundierung abgebildet ist:

http://www.accordsnouveaux.ch/de/Warum/Mitteltoenig/Mitteltoenig.html

Zum Schluss:
Die von mir beobachtete \"vierchörige\" Saitenanordnung solle ich vergessen:
Die Metallstifte auf dem Foto seien nicht original. Im Original sei dort ein Saitenhalter
angebracht der auch ein Holzbrettchen auf vier der fünf Chöre beinhalte, mit dem
\"Wah-Wah-Effekte\" möglich gewesen seien.


Edit 22:15 Uhr: Habe jetzt noch mal nachgelesen,
@Termi: Du hast ins Schwarze getroffen.
"Die Normalität ist eine gepflasterte Straße: Sie ist bequem zu gehen, aber auf ihr wachsen keine Blumen." - Vincent van Gogh

wwelti

Vielen Dank, Tuke. Also tatsächlich mitteltönige Stimmung! Allerdings muß der Kompromiss wohl doch beträchtlich sein... jetzt müsste noch jemand stilecht mit dieser Stimmung spielen können, so daß es so klingt, wie es soll!

Viele Grüße
  Wilfried

hinnerk

@Peter: Danke für die weiteren Informationen. Nur hab ich mich beim letzten Bild doch ablenken lassen. Danach legte ich alle Bücher zur Seite. Sie stehen wieder im Regal. Ein Buch das sich sehr konkret mit den Stimmungen und speziell für Lauten und Gamben beschäftigt ist von Mark Lindley (1985, 1990). Jetzt ist aber genug. Beruhigend für mich, daß auch ausgewiesene Fachleute da an ihre Grenzen geraten. Und tröstlich für mich, daß auch bei Dir der Text abstürzt, mir passiert das öfters und ich krieg die Krise, weil ich denk ich bin der Einzige. LG Axel
@Wilfried: In den 70ern hatte ich eine Lautenphase und beschäftigte mich mit den Stimmungen. Lange her. In der Lautenszene wirst Du am ehesten annähernd authentische Klangwelten finden. Damals wurde in alle Richtungen probiert und experimentiert. Ich erinnere mich an einen Workshop und die vielen Klang-Nuancen, die mit nur wenig Veränderung möglich waren. Eigentlich ist es noch komplizierter als wir bisher waren. Aus der Zeit habe ich noch eine zehnchörige Renaissance-Altlaute, kann ja mal wieder ein bißchen Bünde rumschieben und hören. LG Axel

wwelti

#28
Stimmt, das mit den verschiebbaren Bünden bei Lauten hat mich schon immer fasziniert. Eigentlich finde ich Lauten generell toll. Aber eine gute Laute ist freilich auch ein Kostenfaktor, und Zeit muß man für so ein Instrument auch haben. Naja, vielleicht irgendwann mal... eine vierchörige Diskant-Laute in Ukulelen-Mensur. ;)

hinnerk

Hallo Wilfried, schweift zwar etwas vom Thema ab, aber trotzdem: 1979 hatte ich mir eine Laute von Hans-Herrman Herb bauen lassen. So eine Laute braucht viel Zeit und Zuwendung. Das hatte ich unterschätzt und wurde ihr auf Dauer nicht gerecht. Die letzten zehn Jahre war sie als Dauerleihgabe bei einem Lautenisten in Salzburg, der hat sich jetzt anderweitig orientiert und die Laute ist wieder bei mir. Da ich sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr spielen werde, habe ich zwei Optionen: entweder wieder zuverlässig verleihen oder verkaufen. Hättest Du Lust auf eine der Möglichkeiten, das weitere müßten wir per PN ausmachen. LG Axel